Sonntag, 14. Juni 2015

Eine weiße Feder für dich




Heute schenke ich euch eine Geschichte, die von Freundschaft erzählt. Von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch so gleich sind, weil sie alle Kinder dieser Erde sind. Und ich erzähle euch von Krafttieren. Krafttiere sind magische Begleiter. Das bedeutet, wir können diese Tiere nicht wirklich sehen, aber wir spüren sie wie einen unsichtbaren Freund. Wir reden mit ihnen durch unsere Seele, es sind unsere Seelengefährten. Hast du dein Krafttier gefunden oder es dich, kannst du jederzeit mit ihm reden. Dein Krafttier bringt dir Botschaften, warnt dich vor Gefahr und hilft dir immer, wenn dich kein anderer versteht. Es hilft dir auch, besondere Aufgaben zu erfüllen, die wir Menschen im Leben meistern müssen. Das nennen wir dann Schicksal. Wenn du viel Glück hast, zeigt sich dir dein Krafttier auch in seiner ursprünglichen Form. Vielleicht magst du, wie ich, den Wolf ganz besonders. Du sammelst schon lange Wolfsbilder, Bücher oder es hängt sogar ein Poster von ihm in deinem Zimmer. Plötzlich siehst du einen echten Wolf bei deinem Zoobesuch, der sich sonst niemanden zeigt. Aber nun kommt er, nur für dich, aus seiner Höhle und schaut dich direkt an. Rede mit ihm! Ob laut oder leise, spielt keine Rolle. Höre deinem Krafttier genau zu, meistens hat es dir etwas Wichtiges mit zu teilen. Jeder Mensch besitzt so ein unsichtbares Tier an seiner Seite, aber viele haben diesen Freund verloren oder ihn ganz vergessen.
   Ein großer Indianerhäuptling, der einst auf unserer Erde wohnte, war Chief See AT -  LA. Er war ein kluger Mann und sprach folgende Worte: „Wir alle sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern. Die Rehe, das Pferd und der große Adler sind unsere Brüder. Die felsigen Höhen, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys und des Menschen - sie alle gehören zur gleichen Familie.“
   Nun wird es aber Zeit, euch einen Freund von mir vorzustellen. Sein Name ist Starker Adler. Er ist ein echter Indianer. Ihr wisst sicher, dass die Indianer immer besondere Namen tragen. Jedes neue Familienmitglied wird in einem Clan geboren. Das heißt, alle Indianer sind noch einmal extra aufgeteilt. Einige gehören zum Wolfsclan, andere zum Bärenclan, wieder andere zum Adlerclan. Aber jedes Kind bekommt auch noch einmal seinen eigenen Namen, entweder nach besonderen Fähigkeiten, Aussehen oder nach einer Aufgabe, die es sehr gut geschafft hat oder vor der es Angst hat. Mein Indianerfreund hatte seine Familie mit der Hilfe eines Adlers vor dem Verhungern gerettet. Er durfte sich ab diesem Tag deshalb „Starker Adler“ nennen. Aber das ist eine andere Geschichte, vielleicht erzähle ich euch ein anderes Mal davon.
   Natürlich gehörte mein Freund auch zum Adlerclan. Diesen Tieren hörte er schon als ganz kleiner Junge besonders gerne und aufmerksam zu.
   Starker Adler wohnte jetzt nicht mehr bei seinem Indianerstamm. Nein, er lebte allein in einem großen Wald, weit weg von seiner Familie. Aber einsam war er nie. Sein Pferd und die Tiere des Waldes waren seine Freunde und besuchten ihn jeden Tag.
   Das war aber nicht immer so.
   Starker Adler lebte einst auch unter vielen anderen Indianern. Er hatte eine Frau, ihr Name war Lebhafter Frosch. Die beiden hatten auch ein Baby. Das kleine Mädchen hieß Dakota. Eines Tages war das Kind plötzlich verschwunden. Die Eltern und der ganze restliche Indianerstamm suchten es wochenlang in der großen Prärie, dem weiten Land, indem sie lebten. Durch Rauchzeichen gaben sie sogar den anderen, weit entfernt lebenden Indianerstämmen Bescheid. Niemand fand das Baby. Eines Tages rief ihn der Häuptling, sein Vater, zu sich. „Starker Adler, du musst jetzt sehr tapfer sein. Wir und unsere Brüder können deine Tochter nicht finden. Du musst sie selber suchen. Deine Reise wird lang und anstrengend werden. Du bekommst von mir Südwind, meinen besten und stärksten Hengst. Folge deinem Herzen und höre auf dein Gefühl. Du wirst niemals alleine sein. Dein Krafttier, der Adler wird dich immer begleiten. Horche mit der Stimme deines Herzen auf ihn, er wird dich beschützen und führen. Der Adler wird dir auch zeigen, wohin dich diese Reise führt und wann du irgendwo Halt machen sollst. Beachte ihn immer, dieses Wesen des Himmels, dann wirst du Dakota irgendwo finden.“
   Voller Ehrfurcht zog sich Starker Adler zurück. Er fragte nicht, warum ihn sein Vater auf diese Reise schickte. Das Wort eines Häuptlings wurde nicht angezweifelt. Er lief hinüber zu seinem Wigwam, dem Haus der Indianer, und erzählte Lebhafter Frosch von dem Gespräch. Gleichzeitig versprach er ihr, nicht ohne Dakota zurückzukommen. Sie weinte ein bisschen, aber sie vertraute ihm, deshalb ließ sie ihn auch fort. Starker Adler schwang sich auf den Rücken des schönen, roten Pferdes Südwind.
   Plötzlich trat seine Mutter neben ihn. „Beginne deine Suche mit offenem Herzen, mein Sohn und Sohn des Adlers. Zweifle niemals an dir.“ Bei diesen Worten sah sie ihn direkt an. Ihr Blick erwärmte augenblicklich sein Herz. „Lass dich von der Sonne und dem Mond führen. Folge deinem Krafttier.“
   Starker Adler nickte, streichelte ihr übers Haar und wollte das Pferd wenden. Ihre Stimme hielt ihn jedoch davon ab.
   „Aber eins möchte ich dir noch mit auf dem Weg geben. Du wirst es nicht alleine schaffen, Dakota zu finden.“
   Fragend sah er zu ihr hinunter. Sie holte tief Luft. „Dir wird jemand begegnen, der anders ist als wir. Ihr Haar wird ein Flammenmeer sein, glühend rot. Du wirst sie zuerst nicht verstehen, aber vertraue ihr. Nur mit ihrer Hilfe wirst du dein Ziel erreichen. Sie wird dafür sorgen, dass du in unsere Welt zurückkehren wirst.“ Sie setzte das warme Lächeln auf, das er so an seiner Mutter liebte. „Nun breite deine Flügel aus, mein Sohn. In Gedanken bin ich immer bei dir.“
   Die Worte seiner Mutter ergaben keinen Sinn für ihn. Aber er vertraute ihr, denn seine Mutter war eine sehr kluge Frau. Schweren Herzens ritt er davon.
   Er ritt lange Zeit durch das ganze Land, ohne dass irgendjemand etwas von Dakota gesehen oder gehört hatte. Immer wieder schaute er nach oben. Sein Adler zog Kreise über seinen Kopf, flog aber immer weiter davon. Starker Adler folgte ihm schweigend.
  Eines Tages führte ihn sein Weg durch einen Wald. Von oben hörte er jetzt ein ungewöhnlich lautes Geräusch. Als er hochsah, erblickte er den Adler, der nun laut kreischend hoch oben in engen Kreisen flog. Irgendetwas wollte ihm das Tier sagen! Plötzlich wehte eine weiße Feder zu ihm herab. Der Adler flog noch ein letztes Mal über seinen Kopf hinweg, und dann verschwand das Tier. Starker Adler hielt an, stieg von seinem Pferd, hob die Feder auf und steckte sie sich ins Haar. Sein Herz wusste plötzlich, was der Adler ihm damit sagen wollte. Die Adlerfeder war ein Zeichen dafür, hier im Wald zu bleiben. Bald würde Starker Adler eine Antwort bekommen, wo er seine Tochter finden könnte, das fühlte er genau.
   So begann er, eine Hütte am Fluss zu bauen. Er sammelte Beeren und Kräuter und konnte Fische fangen. Sein Pferd hatte genug Gras, um sich satt zu fressen. Er wurde eins mit der Natur - er wurde ein Teil von ihr. Starker Adler behandelte einen Stein wie eine Pflanze, eine Pflanze wie ein Tier und ein Tier wie einen Menschen.
  Eines Tages sah er plötzlich die junge Frau mit den roten Haaren, von der seine Mutter gesprochen hatte, im Wald spazieren gehen. Starker Adler erstarrte. Ihr Haar sah genauso aus, wie seine Mutter es beschrieben hatte! Erstaunt schlich er nahe an sie heran, versteckte sich hinter einem Baum und beobachtete die Fremde. Sie trug ein grünes Kleid, hatte sehr helle Haut und flammendrote Haare. Haare wie die Farben des Feuers! Ihre wilden Locken fielen ihr immer wieder ins Gesicht, als sie Wildkräuter vom Wegrand pflückte und in ihr Körbchen legte. Eine Indianerin war sie auf keinen Fall. Dabei lief sie, genau wie er selber, barfuß durch den Wald. Und sie sammelte Kräuter wie die Frauen bei ihm zu Hause. Sie musste also auch Ahnung davon haben, was man mit Pflanzen aus der Natur alles anfangen konnte. Nun fing sie an zu singen. Er verstand ihre Sprache nicht, aber ihre Stimme klang wie eine helle Glocke.
   Nachdem er sie noch eine Weile beobachtet hatte, schlich er lautlos rückwärts, wie nur ein Indianer schleichen konnte. Sie sollte ihn nicht bemerken. Plötzlich sah sie jedoch in seine Richtung. Er blieb angespannt hinter dichtem Gebüsch stehen. Ihren Gesang unterbrach sie nicht. Sie schien ihn nicht zu sehen. Nach einer Weile drehte sie sich wieder um und folgte dem Weg, fort von ihm.
  Starker Adler ging zu seinem Pferd zurück, aber er konnte die seltsame Frau mit den roten Haaren nicht vergessen. Jeden Tag versuchte er jetzt, sie zu finden. Eines Tages sah er sie tatsächlich wieder. Sie lag im Gras und schien zu schlafen. Langsam schlich er näher an sie heran und berührte vorsichtig ihr rotes Haar. So etwas hatte er in seinem Leben noch nie gesehen. Er kannte nur die schwarzhaarigen Frauen in seinem Stamm.
   Plötzlich schlug die Frau die Augen auf und hielt ihn am Ärmel fest. Erschrocken wollte Starker Adler flüchten, aber dann wäre er ja feige gewesen. Die Frau lächelte ihn an und zeigte mit dem Finger auf sich selber. "Ich bin Wanda.“ Dabei ließ sie ihn los. Starker Adler verstand, was sie ihm sagen wollte. Er zeigte auf sich selber und sagte laut: „Starker Adler.“
   Damit begann eine tiefe Freundschaft zwischen Wanda, der weißen Hexe, und dem Indianer Starker Adler. Jeden Tag trafen sie sich nun und lernten voneinander. Wanda brachte ihm Worte aus ihrer Sprache bei. Dabei zeigte sie auf passende Gegenstände, damit er wusste, was sie meinte. Sie zeigte ihm auch ihre Gewohnheiten, sie nannte es Rituale, um viel Gutes zu tun. Starker Adler lehrte sie seine Sprache. Er zeigte ihr auch, wie man mit dem Herzen spricht. Starker Adler brachte Wanda bei, wie ein Indianer die Sprache der Tiere verstand, also auf die Körpersprache der Tiere achtete. Beide, Wanda wie auch Starker Adler, lernten schnell und mit Freude voneinander.
    Im Laufe der Zeit konnte er ihr erzählen, warum er hier war. Wanda erklärte ihm, sie würde als weiße Hexe ihre magischen Fähigkeiten einsetzen und ihm helfen, seine Tochter wieder zu finden. Sie konnte ihre Zauberkarten fragen oder einen Blick in ihren Zauberspiegel werfen. Vielleicht würde sie auf diesem Wege Antworten finden. Leider brachten weder Wandas Spiegel noch ihre Karten die gewünschten Hinweise. Starker Adler bedankte sich bei ihr, aber diese Art, in die Zukunft zu schauen, verstand er nicht.
   „Es ist seltsam. Mein Spiegel bleibt dunkel und meine Karten sagen, wir können deine Tochter nur auf deinen Weg finden. Was meinen sie nur damit?“
   Starker Adler hob den Kopf in den Wind und ging einfach davon. Er wusste, nur er selber würde den Weg zu Dakota finden, aber er würde Wandas Hilfe brauchen.
   Doch seine neue Freundin gab nicht auf. Eines Tages hielt ihm Wanda einen roten Stein entgegen. "Lass uns deine Tochter mithilfe der Steinmagie suchen. Ich schenke dir diesen Stein. Er steht mit dem Element Feuer in Verbindung. Er wird uns helfen, eine gute Idee zu bekommen.“
   Starker Adler faltete vorsichtig ihre Finger mit dem Stein darin zu einer Faust. Sie versuchte es noch einmal. "Du brauchst vor meiner Magie keine Angst zu haben. Magie ist schon im Spiel, wenn ich die Energie meines Geistes, Gefühls und Verstandes auf ein Ziel richte. Mein Ziel ist es, deine Tochter zu finden.“
   Starker Adler sah ihr fest in die Augen, dann schüttelte er stolz den Kopf. "Nein, es ist meine Tochter, also muss ich den Weg zu ihr selber finden.“ Im gleichen Augenblick, als er seine Worte ausgesprochen hatte, bereute er sie. Er merkte selber, dass er Wanda gegenüber ein wenig schroff war. Versöhnlich strich er ihr über den Arm und sagte: “Ich, als ihr Vater, habe von dem großen Manitu ein Zeichen bekommen.“
   Wanda nickte und lies ihn aussprechen. „Diese Nacht ist mir im Traum wieder der Adler erschienen. Er trug eine rote Locke in seinem Schnabel. Die Locke hatte die Farbe deiner Haare.“
   Wanda lächelte erfreut. Starker Adler sah sie jetzt ernst an. „Du bist nun soweit. Du verstehst die Sprache der Tiere.“ Wanda streckte verlegen ihre Hände hinter ihrem Rücken. Sie wurde sogar ein bisschen rot im Gesicht und senkte ihren Blick zu Boden. „Wenn du mir wirklich helfen möchtest, dann komm mit mir zu dem Ort, an dem die Krafttiere leben. Nur sie wissen die richtige Antwort. Aber ich brauche deine Hilfe, um wieder zurück in die Wirklichkeit kommen zu können.“
   Sofort wollte Wanda ihm zustimmen, aber er legte ihr vorsichtig den Finger vor dem Mund. „Es könnte sein, das mich meine Trauer dort behält, in diesem unbekannten Land. Dort ist alles so friedlich und wunderschön, alle sind Freunde. Es gibt dort keinen Hass oder Feindschaft.“ Nun war es an Starker Adler, seinen Blick verlegen zu Boden zu senken. "Ich habe Zweifel an mir selber, dass ich aufgeben und einfach für immer dort bleiben möchte. Das ist die Welt meiner Magie.“
   Wanda verstand nahm seine Hand in ihre. "Wofür sind Freunde da? Ich lasse dich nicht im Stich und vertraue dir, auch wenn ich nicht weiß, wohin uns dieser Weg führt. Lass uns gehen, jetzt sofort. Was muss ich tun?“
   Starker Adler seufzte erleichtert auf. Neuer Mut erfasste ihn. „Komm mit zu meiner Hütte.“ Mit diesen Worten stand Starker Adler auf und ging davon. Wanda folgte ihm leise.
   Es dauerte nicht lange, und sie sahen sein Zuhause. Starker Adler ging daran vorbei und lief auf den Fluss zu. Wanda folgte ihm. Er stapfte ins Wasser und fing an, seinen Körper zu säubern. "Den Körper zu baden ist nicht genug, die Reinigung ist dann unvollständig. Lerne auch, deinen Geist in ruhigen Gewässern der Stille zu waschen.“
   Wanda verstand ihn. Ab jetzt sagte sie kein Wort mehr.
   "Der große Geist liebt alle Geschöpfe der Erde.“
   Wieder nickte Wanda nur mit dem Kopf.
   Nachdem sie sauber genug waren, führte Starker Adler sie hinter seine Hütte. Dort sah Wanda eine Lichtung. Ein Sonnenstrahl erhellte diesen Platz. Es war friedlich und ganz still. Selbst die Tiere des Waldes schienen zu spüren, wie wichtig dieser Moment war.
  Starker Adler setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Wanda ließ sich ihm gegenüber nieder. Dann zog er seine weiße Feder aus seinem schwarzen Haar und steckte sie ihr in ihr rotes. "Die Feder wird unsere Verbindung sein. Mit geschlossenen Augen kannst du meinem Gesang und meinen Worten folgen.“
   Wanda tat, was er sagte. Sie spürte nun seine Gegenwart und war bereit, ihm bedingungslos zu folgen. Es dauerte nicht lange und er begann, zu singen. Es war mehr ein Singsang, seine Stimme wurde erst lauter, dann leiser. Beide fühlten, wie sie sich entspannten. Dann beendete Starker Adler seinen Gesang. Wanda musste gut zuhören, um ihn verstehen zu können.
    "Stell dir nun vor, du liegst auf einer Wiese. Die Sonne scheint, es ist warm. Steh jetzt auf. Siehst du die Bäume dort drüben? Folge mir bis zum Wald. Ja, so ist es gut.“ Obwohl beide die Augen geschlossen hatten, spürte er, wie Wanda neben ihm über diese nur in ihrer Fantasie existierende Wiese schritt. Selbst den Wald konnten sie gemeinsam sehen. "Jetzt lauf hinter mir her, folge mir auf dem Pfad durch den Wald."
    "Gleich werden wir zu einem großen Baum gelangen. Unter seinen Wurzeln ist ein Eingang. Dort kriechen wir in die Erde hinein. Hab keine Angst, dort sind wir in Sicherheit. Wenn der Gang zu Ende ist, werden wir bei den Krafttieren sein. Wir suchen ein Helfertier, das uns zu meiner Tochter Dakota führen wird. Das schaffen wir.“ Im Geiste hatte Starker Adler diese Reise schon oft getan. Er erkannte den Baum, den Eingang und den Tunnel. Er schlängelte sich unter dem Baum durch den Tunnel tief in die Erde hinunter. Obwohl es hier unten sehr dunkel und eng war, verspürte er keine Angst. Nach einiger Zeit sah er das Licht. Der Tunnel endete in wenigen Metern. Er sah in ein weites Tal hinunter, indem viele verschiedene Tierarten nebeneinander liefen, krochen oder flogen. Starker Adler spürte Wanda direkt neben sich. Viele Tiere liefen und flogen auf sie zu, jedoch blieb keins von ihnen in ihrer Nähe. Starker Adler bat um ein Krafttier, das zu ihnen kommen und Antworten geben würde.
    Plötzlich flog eine Eule zu ihnen hinüber und setzte sich auf Wandas Arm, dabei sah sie dem Indianer direkt in die Augen. "Ich weiß, wen ihr sucht. Deine Tochter Dakota. Sie ist bei der Schwarzen Waikiki.“ Jetzt rollte die Eule mit ihren Augen und sah zu Wanda hinüber. "Wanda kennt diese böse, alte Hexe.“
   Völlig verwundert darüber, dass eine Eule zu ihnen kam und ihren Namen kannte, hörte Wanda still zu.
„Sie, die Schwarze Waikiki, war vor langer Zeit einmal mit einem Indianer zusammen. Er wollte sie zu seiner Frau machen.“ Jetzt sprang die Eule auf Starker Adlers Schultern und beugte sich bis kurz vor seinem Gesicht vor. „Es war dein Onkel, euer großer Schamane.“
   Sie plusterte sich wichtigtuerisch auf. „Aber diese Frau war schon immer eine böse Hexe. Sie hat ihn von Anfang an betrogen und belogen.“ Jetzt legte die Eule eine Pause ein und begann, sich das Gefieder zu putzen. Die Nerven des Indianers waren zum Zerreißen gespannt. Deshalb berührte er kurz den zarten Vogelkörper. "Was willst du mir damit sagen?“ Sie schüttelte sich erst einmal ausgiebig, bevor sie weiter fortfuhr. „Nachdem der Schamane ihre bösartige Seele durchschaut hatte, verbannte er sie aus eurem Stamm. Aber die Schwarze Waikiki schwor Rache.“
   Wanda drückte sich vor Aufregung ihre Fingernägel ins eigene Fleisch. Nun hüpfte die Eule zu ihr hinüber, riss ihre großen Augen noch weiter auf und sprach dramatisch: „Nie war sie wirklich fort, immer hielt sie sich in der Nähe auf.“ Die Eule konnte ihre Augen tatsächlich noch weiter aufreißen. „Sie wollte sich aus Rache für ihre Vertreibung das erste Mädchen holen, das geboren wurde und unter dem persönlichen Schutz des Schamanen stand.“ Jetzt schaute sie zu Starker Adler hinüber und machte sich in seine Richtung ganz lang. „In diesem Fall war es deine Tochter, Starker Adler. Der Tag naht, an dem Dakota zur bösen Hexe gemacht wird. Das geschieht sehr bald. Wenn ihr sie retten wollt, dann müsst ihr jetzt gehen und sie von der Schwarzen Waikiki fortholen.“ Aufgeregt flatterte sie vor den Augen der beiden auf und nieder. „Noch ist nichts verloren, ihr seid rechtzeitig zu uns Krafttieren gekommen. Falls ihr nicht weiter wisst, folgt der weißen Feder. Macht euch auf den Weg zu ihr, sonst werdet ihr Dakota nie wiedersehen … nie wiedersehen … nie wiedersehen.“ Dann flog die Eule davon.
  Starker Adler und auch Wanda spürten, wie ihnen die Zeit davonlief. Wanda fühlte noch etwas. Trotz der schlimmen Situation wollte Starker Adler nicht zurück. Eine Schwärze legte sich langsam um den Körper von Starker Adler. Er wollte aufgeben, wollte für immer hier bei den Krafttieren bleiben. Er schien dies alles nicht zu verstehen, und eine Traurigkeit breitete sich in ihm aus, die sogar Wanda deutlich spürte. Starker Adler dachte, er hätte seine Tochter für immer verloren. Er war ein sehr mutiger Krieger der Indianer, aber er wusste nicht, wie er gegen eine Hexe kämpfen sollte.
   Wanda wusste, dass sie jetzt für ihren Freund stark sein musste. Irgendetwas würde ihr schon einfallen, um Dakota aus den Fängen der gemeinen Schwarzen Waikiki zu befreien. Angestrengt schubste sie Starker Adler nun vor sich her und drückte seinen Körper zurück in den Tunnel. Sie krabbelten durch den Erdgang wieder zurück. Die Schwärze, die seinen Körper wie ein Spinnennetz umzogen hatte, löste sich langsam auf. Als sie unter der Wurzel des Baumes hervorgekrochen kamen, war mit Starker Adler alles wieder gut. Er sah sie dankbar an, nahm sie an der Hand und gemeinsam rannten sie den Waldweg zur Wiese zurück.
  Dort vernahm sie wieder seine Stimme. "Leg dich auf die Wiese und folge meiner Stimme zurück in die Wirklichkeit.“ Sein Gesang setzte ein und es dauerte nicht lange, bis sie ihre Augen wieder öffnen konnte. Starker Adler saß ihr gegenüber und sah sie an. "Hast du das Gleiche gehört wie ich?“
   Wanda nickte mit dem Kopf. "Ja, ich weiß, wo deine Tochter ist. Bei einer wirklich schrecklichen Hexe namens Schwarze Waikiki. Zu Fuß werden wir drei Tage brauchen, um dort zu sein."
   Er schüttelte den Kopf und stieß einen Pfiff aus. Kurz darauf trabte sein rotes Pferd auf sie zu. Es hielt sich gerne hinter der Hütte am Fluss auf. "Mein Pferd Südwind ist stark genug, uns beide zu tragen. Lass uns sofort losreiten. Hast du auch gehört, das wir den weißen Federn folgen sollen?“ Wanda schwang sich hinter ihm auf das Pferd.
   Während sie hinter ihm auf dem Pferderücken sprang, antwortete sie nur mit ernsten Worten: "Ja, wir müssen durch das Gebiet der Adler, dort wohnt die Schwarze Waikiki, erzählt man sich in Hexenkreisen.“ So ritten sie los. Es war das erste Mal, dass Wanda auf einem Pferd ritt und nicht wie sonst, auf ihren Besen.
   Einmal verirrten sie sich tatsächlich kamen vom Weg ab. Aber da erschien ihnen plötzlich ein Adler, umkreiste ihre Köpfe und zeigte ihnen den richtigen Pfad. Noch einmal ließ er eine Feder fallen. Wanda fing sie auf. Starker Adler wusste jetzt, sie ritten wieder in die richtige Richtung. Diese Feder hatte der Adler ihnen für Dakota geschenkt.
   Dann wurde der Pfad eng. Dicke Steine lagen auf dem Boden, schwarze Felswände versperrten die Sicht. Es wurde dunkel und sehr kalt. Wanda und Starker Adler stiegen ab, und er führte das Pferd. "Es ist nicht mehr weit. Hinter der nächsten Felswandwerden wir sie sehen.“ Wanda sollte recht behalten. Aber bevor sie etwas sehen konnten, hörten sie den abscheulichen Gesang der bösen Hexe.
   HEXEN SIND BÖSE HEXEN SIND HÄSSLICH -  HEXEN SIND ALT HEXEN SIND GRÄSSLICH. HEXEN SIND JA SO GEMEIN -  SIE KÖNNEN NUR DEINE FEINDE SEIN. HEXEN ZAUBERN DIE MASERN DIR -  HEXEN VERZAUBERN MENSCH UND TIER. HEXEN REITEN AUF DEN BESEN -  TREIBEN NACHTS IHR UNWESEN. HEXEN MIXEN SICH GIFTIGE KRÄUTER -  ZAUBERN DER KUH MILCH AUS DEM EUTER. HEXEN SIND MIT DEM TEUFEL IM BUND - HEXEN SIND FÜR ALLES ÜBLE DER GRUND!!!!!“ Danach hörten Wanda und Starker Adler ein gemeines Lachen.
   Als sie vorsichtig um die Felswand sahen, erblickten sie auch das kleine Mädchen. Wortlos hielt Dakota einen Eimer in der Hand, schaute kurz zu der Hexe hinüber und schleuderte ihn der Schwarzen Waikiki jetzt entgegen. Das Mädchen schien keine Angst vor ihr zu haben. Die Hexe lachte aber nur noch lauter. „Sei nur schön frech, du Balg. Heute Abend ist es soweit, dann wirst du von mir verwandelt und gehörst ganz alleine miiiir!“
   Starker Adler wollte losstürmen. Wanda reagierte blitzschnell. Sie hielt ihn so stark am Ärmel fest, dass der Stoff riss. "Warte bitte noch einen Augenblick, jetzt kann uns nur noch meine Magie weiterhelfen. Wenn ich gleich mit meinen Worten ihren Zauberspruch verändere, werde ich sie gleichzeitig bannen. Das bedeutet, sie erstarrt für sieben Monate zu Stein. Stürmst du zu früh los, kann ich dir nicht helfen, auch du wirst versteinern. Warte, bis meine Worte sie erreichen, dann läufst du los und holst deine Tochter. Wenn du sie hast, steige mit ihr sofort auf das Pferd und verlasse diesen düsteren Ort. Mach dir um mich keine Sorgen, wir treffen uns an deiner Hütte.“
   Wanda begann mit ihrem Verwandlungsspruch: DOCH DAS IST JA ALLES NICHT WAHR! HEXEN SIND KEINE SCHLIMME GEFAHR. HEXEN SIND MEIST NUR WEISE FRAUEN -  MAN SAGT - SIE KÖNNEN IN DIE ZUKUNFT SCHAUEN. HEXEN SIND FREUNDLICH -  HEXEN SIND GUT - HEXEN SIND KEINE TEUFELSBRUT. HEXEN HEILEN -  HELFEN -  LINDERN -  KÖNNEN SCHMERZEN RASCH VERMINDERN.SIE NUTZEN DIE KRÄFTE DER NATUR -  DER KRÄUTER AUS WALD UND WIESENFLUR. SIE WISSEN DIE KRAFT DES MONDES ZU SCHÄTZEN UND SIE FÜR IHRE KRÄFTE EINZUSETZEN. DRUM HAB VOR HEXEN KEINE ANGST. FALLS DU JE ZU EINER GELANGST -  SCHAU IHR BEI DER ARBEIT ZU -  DANN LERNST AUCH DU NOCH VIEL DAZU. Nun mach das Schlechte zu was Rechtem - im Steine soll sie sieben Monate knechten. So sei es - so sei es - so sei es!“
  Während der Wind Wandas Worte zu der Schwarzen Waikiki wehte, drehte sich diese für einen winzigen Augenblick um und schaute zu der Felswand hinauf. Sie spürte, dass etwas geschehen würde. Blitzschnell versuchte sie nun, zu Dakota zu hechten, um sie an sich zu reißen. Kurz bevor sie das Kind jedoch erreicht hatte, stürzte sich plötzlich ein riesiger Adler zwischen die beiden. Er krallte sich in den Schultern des Kindes fest und brachte es ein Stück von der Hexe fort. Diese fiel heftig zu Boden. Wütend drehte sie sich aber noch einmal um und hob die Hände zur Felswand. „Potz Blitz und starker Regen, so was darf es bei mir nie geben!“
   Sofort kamen schwarze Strahlen aus ihren Händen, die sie direkt auf Dakota und den Adler richtete. Aber bevor die bösen Hexenstrahlen die zwei erreichen konnten, griff Wandas Verwandlungsspruch ein. Es zischte, als wenn jemand Wasser auf eine Feuerstelle schüttete. Sofort danach wallte ein lilatürkisfarbender Nebel auf, der Wanda und Starker Adler die Sicht versperrte. Wanda hatte sich vor Aufregung in Starker Adlers Arm festgekrallt. Niemand von beiden sprach ein Wort, beide hatten zu viel Angst, was dort unten wirklich passiert war. Keine Sekunde zu früh traf ihr Spruch ein.
   Als der Nebel sich endlich lichtete, konnten sie alles sehen. Dakota lag auf dem Bauch, hatte ihre Arme verschränkt und schien zu weinen. Die Schwarze Waikiki jedoch lag, wie sie gefallen war. Es war ein wirklich seltsames Bild. Regungslos hatte sie ihre Arme nach oben gereckt, aber ihr böser Zauber hatte ihr nicht geholfen. Sie war zu Stein verwandelt worden, genau wie Wanda es gewollt hatte. Die böse Hexe kam gegen Wandas gute Hexenkräfte nicht an.
   Jetzt hielt nichts und niemand Starker Adler davon ab, endlich nach unten zu seiner Tochter zu laufen. Wanda beobachtete, wie er sie vorsichtig hochnahm und an sich drückte. Das Kind schlang seine Arme um den Indianer und vergrub den Kopf an seiner Schulter.
    Als Starker Adler mit Dakota auf dem Arm endlich bei Wanda ankam, legte sie ihm nur seine Hand auf seinen Arm.  „Nun ist es endlich vollbracht.“ Mit diesen Worten steckte sie Dakota die zweite weiße Feder ins Haar. Starker Adler brachte in diesem Moment kein Wort heraus. Wanda verstand seine Dankbarkeit auch so.
    Er schwang sich mit Dakota auf Südwind, der sie beide davontrug. Den schweren Weg zurück schien das Pferd spielend zu schaffen, es flog wie der Wind davon.
   Wanda rief ihren Besen und flog ebenfalls davon. Wenn sie schnell aus dem Gebiet der Schwarzen Waikiki heraus war, konnten ihr die Erinnerung an die böse Hexe auch nichts mehr anhaben.
   Starker Adler war mit Dakota schon an der Hütte. Er hielt sie im Arm und weinte. Auch Dakota schien überglücklich, ihren Vater wieder zu sehen. Die Hexe hatte ihr nie beigebracht, zu sprechen. Aber das würde Dakota schnell lernen, wenn sie erst wieder zu Hause war und sich ihre Familie um sie kümmern konnte.
   Wanda schickte ihren Besen wieder fort, sie wollte weder Starker Adler noch das Kind erschrecken.
   Er sah sie auf sich zu kommen und drehte seine Tochter zu ihr um. "Siehst du, Dakota, das ist meine Freundin Wanda.“ Das Kind lächelte sie schüchtern an. „Sie ist so ganz anders als wir und doch so gleich. Es ist egal, wie alt ein Mensch ist, welchen Stamm er angehört oder wie er aussieht.“
   Wanda wollte im ersten Moment fragen, ob Dakota ihren Vater sofort erkannt hatte. Aber sie schwieg. In diesem Augenblick schmiegte sich das Mädchen fest an seinen Körper. Sie musste es gespürt haben! Wanda lächelte. Wahre Liebe kann man auch ohne große Worte spüren und fühlen. Sie lauschte weiter seinen Worten. „Es ist noch nicht einmal wichtig, welche Sprache wir sprechen. Freundschaft kennt keine Grenzen.“
   Starker Adler nahm seine Tochter jetzt an die Hand und hielt seine andere Wanda entgegen. Sie ergriff sie sichtlich gerührt. „Wenn du einen Menschen als wahren Freund oder Freundin des Herzens bezeichnen kannst, bist du der reichste Mensch der Welt. Dann kannst du alles erreichen und nichts wird dich aufhalten.“ Starker Adler drückte Wandas Hand ein wenig zu fest. "So eine Freundin haben wir in Wanda gefunden.“ Er ließ ihre Hand nun los und stellte sich selbstbewusst vor Wanda, dabei legte er seinen Arm über seine Brust. „Wie kann ich dir nur danken, Freundin der Magie und der Natur?“ Wanda lächelte ihn an. In dieser Position hatte sie sich immer einen echten Indianer vorgestellt.
  Ihr warmes Lächeln glich jetzt dem seiner Mutter. "Bring deine Tochter sicher nach Hause und sei gut zu ihr.“ Ehrfurchtsvoll betrachtete er Wanda noch ein letztes Mal. "Der Geist der Natur soll dich mit seinen Wohltaten überschütten - an jedem Tag deines Lebens.“
   Dann pfiff er nach Südwind, schwang sich hinauf und zog Dakota liebevoll vor sich hoch. Dabei fiel Wanda noch etwas ein. Sie hatte noch die weiße Feder! Schnell hielt sie diese den beiden auf dem Pferd entgegen.
  Starker Adler schien ihre Gedanken zu erraten. Er wollte ihr eine besondere Erinnerung schenken. „Diese Feder sei dein.“ Er ritt ganz nahe an sie heran und nahm ihr die Feder aus der Hand. „Es ist ein Geschenk des Adlers für dich. Die Feder soll dich an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Sie will dir Danke sagen, Kind der Erde!“
    Während seiner Worte steckte er Wanda die Feder in ihr feuerrotes Haar. „Wir gehen in Frieden auseinander, feiern die Reise! Ich verstehe es nun, nahe dem Land zu sein, auf dem wir alle laufen.“ Er vollführte mit seinem Arm eine ausgiebige Handbewegung, die ihre ganze Umgebung einschloss. Dann legte er die Hand auf sein Herz. „Fühle es, wisse es, liebe und höre es. Das Land, die Tiere und die Natur sind unsere Lehrer. Wir alle gehören zu dem Kreis des Lebens, sind eins auf Mutter Erde. Daran glauben wir Indianer.“ Er schaute sie noch ein letztes Mal an, dann wendete er sein Pferd und ritt davon.
   Wanda schaute ihnen noch lange nach. Dann berührte sie behutsam ihr Haar. "Eine weiße Feder für mich.“ Sie spürte, wie bedeutungsvoll sein Geschenk war.
   Der Indianer Starker Adler, seine Tochter Dakota und die Hexe Wanda sahen sich nie wieder, aber sie trugen sich und ihre gemeinsamen Erinnerungen immer in ihren Herzen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen